AM38 – Brief an Walter Gropius
Wien, Donnerstag, 29. September 1910


Donnerstag

Mein geliebter

Gestern habe ich mir Deinen Brief geholt. – Du hast nicht ganz recht darin – insoferne, als die Leiden unsre Herzen verwirrt haben – unsre Liebe nicht ausreifen ließen. – Alles wurde plötzlich überhitzt – und allzu leidenschaftlich[,] \vor allem meine ich da /. Dieser Wurf aus dem Coupéefenster – hat unser Schicksal auf eine Reihe von Jahren hinaus – besiegelt. –

Die Ruhe – Seligkeit – unsre Pläne – alles

wurde zernichtet. Ich habe nie darüber gesprochen – nur heute, wo ich Deine Zeilen lese – in denen Du diesen Schicksalsmoment lobst und in echt anthropomorpher Weise – alles[,] wie es geschehen ist, gut heißt – heute sage ich – wie ich darüber denke. – hat von nichts etwas geahnt. – So lange ein Mensch von etwas nicht leidet, so lange schade[t] es in Wahrheit nicht. Heute ist er eifersüchtig u. misstrauisch. Du selbst hast es aus seinen Blicken gelesen. — — — —

Salzburg! – Und

ein Kind von Dir! Dieses Leuchten \ist/ in weite Fernen gerückt. – Die Trennung – America – ein Nichts – denn Du wärst ja bei mir gewesen. —

Was wir heute thun, ist nothgedrungen. —

Ich hätte Dich öfter sehen können – und – anders. Denn wo kein Misstrauen ist, – kein Leid /ist\ – wäre unser Glück keine Sünde gewesen. —

Jeder Mensch hat ein gewisses Anrecht auf „Glück“ – mein Glück war – da!!! –

Nun – – Meiner – schreibe mir[,]

wann es Dich dazu treibt – ich liebe Alles von Dir – jedes Deiner Worte.

Ich reise am 14[.] nach Paris – schreibe mir auch dort noch einen letzten europäischen Gruß hin p.[oste] r.[restante] A. M. 50[.] —

Ich liebe Dich gleich stark und hoffe und lebe auf die Zukunft hin[.] Ich umarme Dich[,] mein [.]

Schreib!


Apparat

Überlieferung

, , , .

Quellenbeschreibung

2 Bl. (4 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Neubabelsberg bei Berlin | 5/10 Berlin W (unbekannte zeitgenössische Handschrift) Wilmersdorf bei Berlin (gestempelt) | Stahnsdorferstraße 83 | Herrn Walter Gropius (Handschrift AM, nicht von ihr durchgestrichen); PSt. (lt. , S. 960, u 6k10): 1/1 WIEN [11] | 4.X.10 – 7 | * o *; von WG mit einer 24 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen); fremdschr. Datierungsversuch nach Übergabe an : „4.10.1910“; rückseitig: muss nach Berlin W. Nicolsburgerplatz 4 | Döring 5/10 (andere unbekannte zeitgenössische Handschrift).

Druck

, S. 1030 bei Anm. 299 (Auszug in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG81 vom frühestens 9. Oktober 1910 (Heute morgen fand ich heimkehrend Deinen Brief. Du hast Recht er erfüllt mich mit Zorn gegen mich selbst und ich fühle wie mich beschämt durch Dich): Ich habe nie darüber gesprochen nur heute, wo ich Deine Zeilen lese in denen Du diesen Schicksalsmoment lobst und in echt anthropomorpher Weise – alles wie es geschehen ist, gut heißt – heute sage ich wie ich darüber denke und WG82 vom frühestens 9. Oktober 1910 (\Wie ist der erste passus in Deinem Brief zu verstehen/): Gestern habe ich mir Deinen Brief geholt. – Du hast nicht ganz recht darin – insoferne, als die Leiden unsre Herzen verwirrt haben – unsre Liebe nicht ausreifen ließen. – Alles wurde plötzlich überhitzt […]. Dieser Wurf aus dem Coupéefenster – hat unser Schicksal […] besiegelt und (Schicksal unseres K.[inde]s): ein Kind von Dir! Dieses Leuchten \ist/ in weite Fernen gerückt.

Datierung

Schreibdatum: irrtümlich „‚Donnerstag‘ (probably [6.] Oct. 1910)“ (, S. 1030, Anm. 299).

AM stellte die Absendung des vorliegenden Briefes AM38, vom Donnerstag, 29. September 1910, aus unbekanntem Grund bis zum 4. Oktober (Poststempel) zurück.

Übertragung/Mitarbeit


(Cornelia Fahrion)
(Bettina Schuster)


A

Brief – Ausgehend vom vorliegenden Brief muss einen Brief an geschrieben haben, in welchem er die Katastrophe schönredete. Zu diesem Brief liegt heute kein Entwurf mehr vor.

B

Wurf aus dem Coupéefenster – eine Metapher für die Katastrophe.

C

Salzburg! – Bereits in AM5 vom 20. Juli 1910 wurde Salzburg als Ort für ein gemeinsames Treffen in Erwägung gezogen.

D

Vierfach unterstrichen.

E

Dreifach unterstrichen.

F

Ich reise am 14[.] nach Paris – schreibe mir auch dort noch einen letzten europäischen Gruß hin – s. WG74 vom 17. oder 18. September 1910: Hotel Paris?